Wir waren 14 und verbrachten den ersten Urlaub ohne unsere Eltern. Wir, das waren zehn, vielleicht ein Dutzend Schüler unseres Gymnasiums, die zusammen mit 30 anderen Teenagern aus Stadt und Umland den Bus enterten. Die Ältesten waren wohl knapp 16, die Jüngsten 14, ich war eine der Jüngsten. Unsere Eltern fuhren uns zur Abfahrt am Jugendheim, und das Wichtigste war: Dass sie uns nicht am Bus verabschiedeten. Sie sollten uns auf jeden Fall vorher raussetzen, um uns nicht zum Sentimentalitäten-Gespött vor den Anderen zu machen.

Der Urlaub änderte alles.

Danach teilte sich die Clique: In die, die dabei gewesen waren „in Frankreich“, und die, die zu Hause geblieben waren. Die „den Sommer“, der ja nur aus zwei Wochen bestanden hatte, nicht miterlebt hatten.

Aber danach, das wurde mir im Rückblick klar, teilte sich auch unser Leben: In das Davor und das „Danach“, als wir dem Erwachsensein schon näher standen als der Kindheit.

Es war ein seltsamer Mikrokosmos, der sich da bildete, in einem Tal am Fuß einer gottverlassenen Schlucht in Südfrankreich. Es war eine „Kirchenfreizeit“, deswegen gab es sonntags morgens einen Gesprächskreis, über den wir Jugendlichen ebenso routiniert wie außenwirksam mokierten. Der Rest war Freiheit. Freizeit. Abhängen. Die Verheißung von Eigenständigkeit.

Wenn wir die Hänge, an deren Fuß sich das Zeltlager befand, hochmarschierten, landeten wir in einem 20-Seelen-Ort, der den Namen nicht verdiente: Eine Durchgangsstraße mit ein paar Boule spielenden Opas, die sich nicht für uns interessierten – und einem einzigen Laden, der eigentlich eine Bar war, aber auch Zigaretten und Alkohol verkaufte. An uns 14-Jährige. In Massen. Im Grunde taten wir nichts anderes, als zu rauchen, zu trinken, „Yellowman“ am Lagerfeuer zu hören und, nun ja: Das Leben zu genießen. Manche kifften auch oder krümelten in ihren Tabak, was sie so für berauschend hielten. Alufolie. Pflanzen. Die Labilen unter den Teenagern ließen sich dabei nachts tief in die Seele blicken, und wenn sie Glück hatten, waren sie mit der Geschichte ihres Lebens am nächsten Tag höher angesehen.

Manche hatten Pech: Ihr Seelenstriptease brachte eine Saite an den Anderen zum Klingen fernab von Empathie, Bewunderung oder wenigstens Gleichgültigkeit: Sie waren danach Ausgegrenzte.

Und dann war da noch J., 15 Jahre alt, die ihre Geschichte erzählte, als unsere Gruppe sich wohl eine Woche kannte. J. war ein paar Monate zuvor versehentlich schwanger geworden war von einem Klassenkameraden und „hatte mit ihm zusammen versucht, es los zu werden.“ Also waren sie auf dem Volksfest Achterbahn gefahren und „Breakdancer“, hatten Alkohol getrunken und gekifft, sie und ihr Freund. Der Schwangerschaftstest blieb positiv, also verabredeten sie sich hinter ihrer Schule, abends. Dort trat ihr Freund auf ihren Bauch ein. Einmal, zweimal, ungezählte Male, bis er nicht mehr konnte. Das Baby war tot. „Wir hatten nicht dran gedacht, dass es dann trotzdem noch da ist.“ J. musste nachts ins Krankenhaus, der tote Fötus wurde entfernt. Ob sie danach noch würde Kinder haben können, erwähnte sie nicht – nur, dass sie danach nicht mehr mit ihrem Freund zusammen war.

Im Rückblick glaube ich, der Abend, an dem ich diese Geschichte hörte, unter den Sternen Südfrankreichs, in der Runde benebelter Teenager, war der, der das Ende meiner Kindheit markierte. Auch wenn meine beste Freundin und ich keine Stories beizusteuern hatten, weil unser Leben bisher das behüteter Kinder gewesen war, dann wussten wir doch: J.s Story war sehr, sehr erwachsen. Mehr noch, sie offenbarte die volle Verletzlichkeit unserer Situation: Wir konnten uns in erwachsene Schwierigkeiten manövrieren. Und hatten nicht im Ansatz das Instrumentarium, um uns da raus zu holen.

J.s Schicksal war – viel mehr als die beflissenen Gesprächskreise – unsere Warnung, manches besser richtig zu machen.

Ich habe in all den Jahren nie wieder daran gedacht. Erst neulich, als ich auf einem Ausflug mit den Kindern eine Frau sah, die J. auf verblüffende Art ähnelte. In dem Moment traf mich eine Erkenntnis: Ich habe damals in Frankreich, in dem Zeltlager, aber auch nie hinterher, darüber gegrübelt, wie das für J.s Eltern war. Ob J. an diesem kirchlich organisierten Zeltlager teilnahm, um sie guten Einflüssen auszusetzen (was eine komplette Fehleinschätzung der Reise war, aber das hätten die Eltern ja nicht wissen können). Und: ich habe auch nie darüber nach gedacht, wie weit entfernt wir damals schon von unseren Eltern waren. Wir rauchten, tranken, manche hatten schon Sex. Während unserer Reise nahmen wir kein einziges der Angebote an: Kanufahren, Städtetrips, Sport oder Gesprächskreise: Wir waren der desinteressierte Albtraum aller Erwachsenen. Und wussten darum: Nach der Heimkehr trimmten wir unsere Erzählungen auf elterntauglich, ergänzten all die Ausflüge, die wir abgelehnt hatten.

Mein Puffi ist jetzt drei. In elf Jahren wird er ein Teenager sein wie wir damals. Mit Ängsten, Sorgen und Träumen, die ich nicht kenne. Mit Problemen, die er mir nicht offenbaren wird. Und ich hoffe, dass er zu mir kommt, wenn seine Freundin schwanger ist. Das ist einer meiner größten Wünsche: Dass er weiß, dass er nicht allein sein muss, wenn er es schwer hat.

 

⚓ NOTFALL-TIPP

Das Familienministerium hat eine Homepage und Hotline, bei der Mädchen sich beraten lassen können. Anonym und ergebnisoffen. 0800 – 40 40 020 wählen. Denn auch wenn man sich seinen Eltern nicht anvertrauen möchte: Hilfe holen kann man sich auch woanders.